Ohnmacht und Vollmacht

Predigt über Lukas 18,31-43

Es gibt Christusdarstellungen, auf denen Jesus als Herrscher der Welt dargestellt ist. Die Darstellung ist oft zeitbedingt, die Botschaft aktuell: Christus ist der Herr. Er ist König. Er regiert die Welt - auch, wenn derzeit noch andere Mächte am Werk sein können. In dieser Woche beginnt die Passionszeit, in der wir in besonderer Weise an den Leidensweg von Jesus denken. Wir denken daran, dass er ausgeliefert, verspottet, beleidigt, angespuckt, ausgepeitscht und getötet wurde.

Das ist ein starker Kontrast: die Worte, die den Leidensweg von Jesus beschreiben und die Bilder, die Christus als Herrn der Welt zeigen. Diesen Gegensatz kennen wir: Zeiten, in denen uns ganz klar ist: Christus ist der Herr; und Zeiten, in denen uns Zweifel quälen. Wir hören von Christen in anderen Ländern, die ausgeliefert, verspottet, beleidigt, angespuckt, ausgepeitscht und getötet werden.

Diese Worte, die das Leiden von Jesus beschreiben, stehen in einem Abschnitt aus dem Lukas-Evangelium (Lk 18,31-43). Zwei Szenen aus dem Leben von Jesus - kurz, bevor sein Leidensweg begann.

Jesus nahm die Zwölf beiseite und sagte zu ihnen: »Hört zu! Wir gehen nach Jerusalem. Dort wird alles in Erfüllung gehen, was die Propheten über den Menschensohn geschrieben haben.

Jesus hat in der Öffentlichkeit gelebt, er hat sich nicht versteckt. Aber es gab Situationen, da wollte er nur seine zwölf engsten Vertrauten um sich haben. Beim Abendmahl am Gründonnerstag zum Beispiel, oder wenn er Gleichnisse erklärte. Diesmal handelt es sich um eine Ankündigung, die nur für die Zwölf bestimmt ist. Jesus sagt: Wir gehen nach Jerusalem, in die Stadt, in der einst der große König David regierte und auf die sich alle Hoffnungen auf einen neuen David, auf einen Retter, einen Messias, eine bessere Zukunft, ein Eingreifen Gottes konzentrierten. Und er kündigt die Erfüllung dessen an, was die Propheten vorausgesagt hatten.

Erfüllung - den Jüngern war klar: jetzt wird es ernst. Jetzt läuft alles auf eine Entscheidung zu. Jerusalem - dort würde Jesus allen zeigen, dass er der Messias ist. Jerusalem - dort müssten alle einsehen, dass Jesus der Retter, der neue König ist. Aber Jesus kündigt etwas ganz anderes an:

Er wird den Fremden ausgeliefert werden, die Gott nicht kennen. Er wird verspottet und beleidigt und angespuckt werden. Sie werden ihn auspeitschen und töten, doch am dritten Tag wird er auferstehen.

Jerusalem wird kein Siegeszug, sondern ein Leidensweg. Erfüllung heißt nicht, dass Jesus für alle sichtbar zum König wird, sondern dass das Böse noch einmal alle Macht bekommt.

Die Jünger sehen Jesus als den Heilskönig. Sie haben ihn erlebt, dass er heilen kann, Tote auferweckt, von Gott bevollmächtigt ist. Aber Jesus spricht nicht von Vollmacht, sondern von Ohnmacht. Kein Wunder, dass es von den Jüngern heißt:

Die Zwölf verstanden kein Wort. Was Jesus sagte, blieb ihnen verborgen; sie wussten nicht, wovon er sprach.

Die Jünger haben die Vollmacht von Jesus erlebt. Aber jetzt, als es um die Erfüllung geht, spricht er auf einmal von Ohnmacht. Uns geht es ähnlich. Wir kennen in unserem Glauben beide Seiten: Gottes Macht - und auch ein Gefühl äußerster Ohnmacht. Wir erleben eine Welt, in der wir Gottes Macht nur selten spüren. Alle möglichen Mächte herrschen über Menschen, Krankheiten mindern das Leben und setzen ihm oft ein frühes Ende, Gewalt ist an der Tagesordnung - im Kleinen wie im Großen. Menschen werden ausgeliefert, verspottet, beleidigt, angespuckt, ausgepeitscht und getötet. Die Bibel sagt uns, dass Gott die Macht hat, im Glaubensbekenntnis bekennen wir: Er sitzt zur Rechten Gottes. Das ist ein starker Gegensatz. Da geht es uns manchmal wie den Jüngern: Die Zwölf verstanden kein Wort. Was Jesus sagte, blieb ihnen verborgen; sie wussten nicht, wovon er sprach.

Die zweite Szene: Als Jesus in die Nähe von Jericho kam, saß dort ein Blinder am Straßenrand und bettelte. Er hörte die Menge vorbeiziehen und fragte, was da los sei.

Klar, dass der Blinde mitkriegt, wenn viele Leute vorbeilaufen. Statt den Mund zuzumachen um nicht Staub zu schlucken, macht er den Mund auf. Er fragt andere, was sie sehen. Er hat sich mit seiner Behinderung, seinem Schicksal nicht einfach abgefunden. Er hat sich nicht damit abgefunden, dass das Leben an ihm vorbeiläuft.

Er erfuhr, dass Jesus aus Nazaret vorbeikomme. Da rief er laut: »Jesus, Sohn Davids! Hab Erbarmen mit mir!«

Der Bettler wollte nicht, dass das Leben an ihm vorbeiläuft. Jetzt erfährt er, dass der, der das Leben ist, hier vorbeikommt. Er sieht ihn nicht - wie wir ihn nicht sehen. Er kann nicht zu ihm hinlaufen - wie wir nicht zu ihm hinlaufen können. Er kann nur rufen: Jesus, Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir! Diese Anrede ist nicht ungefährlich. Gerade hier, 30 km vor Jerusalem mit dem Königspalast, ist es brisant, jemanden als Nachfolger Davids, des größten Königs von Israel anzureden. Vielleicht reagieren die Begleiter von Jesus deshalb so gereizt:

Die Leute, die Jesus vorausgingen, fuhren ihn an, er solle still sein; aber er schrie nur noch lauter: »Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir!«

Die Jünger wollen nicht, dass Jesus auf seinem wichtigen Weg nach Jerusalem aufgehalten wird. Deshalb betätigen sie sich als Bodyguards. Gerade noch stand ihnen der Mund offen, weil sie kein Wort von Jesus verstanden, jetzt wollen sie schon wieder alles im Griff haben und einem anderen den Mund stopfen. Keiner hat in Sachen Glauben die Weisheit mit Löffeln gefressen, trotzdem wissen wir ganz genau, wie andere beten, glauben und handeln sollten. Aber der Blinde lässt sich nicht unterkriegen. Er schreit weiter: Jesus, Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir!

Jesus blieb stehen und ließ ihn zu sich holen. Als er herangekommen war, fragte ihn Jesus: »Was soll ich für dich tun?« Er antwortete: »Herr, ich möchte wieder sehen können!«

Jemand hat mal gesagt, dass man so beten soll: Man soll sich vorstellen, man kommt in ein Zimmer, da steht ein Stuhl, Gott sitzt einem gegenüber und fragt: "Was soll ich für dich tun?"

Jesus sagte: »Du sollst sehen können! Dein Vertrauen hat dich gerettet.« Sofort konnte der Blinde sehen. Er pries Gott und folgte Jesus. Und das ganze Volk, das dabei war, rühmte Gott.

Der Blinde sitzt nicht mehr am Straßenrand und bettelt um eine milde Gabe. Er folgt Jesus und lobt Gott aus vollem Herzen. Jesus macht diesen Menschen gesund. Aber das ist nicht die Hauptsache. Jesus macht einen Menschen heil und dieser Mensch folgt ihm nach - das ist die Hauptsache: Er pries Gott und folgte Jesus.

Ohnmacht und Vollmacht - auf dem Weg zum Kreuz heilt Jesus einen Menschen, auf dem Weg in die größte Ohnmacht zeigt er seine Vollmacht. Das heißt: Jesus ist nicht ohnmächtig, er ist nicht dem Bösen in der Welt ausgeliefert. Jesus macht sich ohnmächtig, er liefert sich dem Bösen aus um es zu besiegen. Er stirbt am Kreuz, weil er seine Vollmacht nicht nur an dem einen oder anderen Bettler vor 2000 Jahren zeigen wollte, sondern an allen Menschen zu allen Zeiten. Lukas zeigt, worauf es beim Glauben ankommt: sich von Gott die Augen öffnen zu lassen für eine Wirklichkeit, die wir mit unseren Augen nicht sehen und mit unserem Verstand nicht verstehen. Im Blick auf Gottes Pläne und Wege sind wir blinde Bettler. Wir sitzen mit unserer geistlichen Blindheit am Weg, den Jesus zum Kreuz geht. Lukas lädt uns ein, so zu vertrauen wie der blinde Bettler. Die Jünger verstehen nichts, aber ein blinder Bettler sieht, lobt und folgt. Lukas schrieb später die Apostelgeschichte. Da sagt der auferstandene Christus zu Paulus (Apg 26,18): Gerade ihnen sollst du die Augen öffnen, damit sie aus der Finsternis ins Licht kommen, aus der Gewalt des Satans zu Gott. Denn wenn sie auf mich vertrauen, wird ihnen ihre Schuld vergeben, und sie erhalten ihren Platz unter denen, die Gott zu seinem heiligen Volk gemacht hat.

In diesem Sinne lädt Lukas uns ein zu Jesus zu rufen: Jesus, Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir! Zeige an mir deine Macht! Tu mir die Augen auf für deine Größe! Öffne mir in dieser Passionszeit die Augen dafür, was du für mich getan hast! Öffne mir die Augen dafür, dass dein Kreuzweg eben doch ein Siegeszug war: Er wird den Fremden ausgeliefert werden, die Gott nicht kennen. Er wird verspottet und beleidigt und angespuckt werden. Sie werden ihn auspeitschen und töten, doch am dritten Tag wird er auferstehen.

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